Laut Lehrmeinung dürfte es den Eiskargletscher gar nicht geben. „Dass sich in einem Gebirge, das nicht mit Vergletscherung in Zusammenhang gebracht wird, ein 15 Hektar großer Gletscher hält, ist einzigartig. Einsam und versteckt in einer Mulde liegt er in unüblich geringer Höhe, an den Nordflanken der Kellerwand in den Karnischen Alpen“, erklärt Gerhard Hohenwarter. „Viele wissen, dass es das Eiskar gibt. Wenigen ist bekannt, wo genau der Gletscher liegt. Und kaum jemand war bereits dort“, berichtet der 70-jährige pensionierte Villacher Gymnasialprofessor für Geografie und Geschichte. Selbst vom Gailtal aus sieht man das Eiskar nur an einer Stelle nahe Kötschach-Mauthen.

Dass kaum wer je im Eiskar war, liegt an den beiden einzigen Varianten, dorthin zu gelangen. Nur passionierte, ortskundige Kletterer steigen von der Oberen Valentinalm hinauf zum Eiskar. Und vom Plöckenpass aus enden markierte Steige über italienisches Gebiet auf der Grünen Schneid. Weiter muss man ohne Weg in schwierigem alpinem Gelände. Ein nur mit detailreicher Ortskenntnis ratsames Unterfangen.

„Obwohl der Karnische Höhenweg vom Wolayer See zur Valentinalm ganz in der Nähe, knapp 1.000 Höhenmeter tiefer, am Eiskar vorbeiführt, treffen wir bei unseren Gletschermessungen nie irgendwen. Wir sind in totaler Einsamkeit und einmaliger Stille unterwegs“, erzählt Hohenwarter. „Ich habe schon länger überlegt, wo das Eiskar genau liegt und wie ich hinkommen könnte. Wann immer ich im Valentintal unterwegs war, habe ich gerätselt, wo genau der Gletscher ist. Dass es in einem so bekannten Berggebiet ein Kar gibt, das so einsam liegt, ist faszinierend“, sagt Martin Ladstätter, einer von Gerhard Hohenwarters Begleitern bei seiner 100sten Eiskar-Tour im Juli 2018. Den passionierten Kletterer, der Radiologe in Villach ist, hat vor Ort „die Größe des Gletschers, der völlig atypisch im Vergleich zu fast allen anderen Gletschern ist“, sehr beeindruckt.

„Ich war schon sehr oft – 102 Mal seit 1981 – im Eiskar und gehe dennoch jedes Mal wieder gerne hinauf. Die Entwicklung der Natur während eines so langen Zeitraums zu beobachten ist faszinierend“, schwärmt Hohenwarter. „Die Veränderungen des Gletschers seit dem Höchststand 1850 zu ‚lesen‘ ist überaus interessant. Das gilt auch für die riesigen Felsabbrüche, die alle paar Jahre auf den Gletscher stürzen. Ähnlich beeindruckend ist es zu sehen, wie sich auf den Moränen, wo Jahrzehnte lang nur Fels und Schutt war, Sträucher und bunte Blumen anzusiedeln beginnen“, nennt der Villacher Geograf Beispiele.

Im Bild: Das Eiskar (links im Bild) – Anfang Juni liegt meist noch sehr viel Schnee am Gletscher | Foto: Archiv Gerhard Hohenwarter

Österreichs südlichster Gletscher

Das Eiskar ist Österreichs südlichster Gletscher. Es zählt mit seiner Höhenlage (durchschnittlich 2.250 m) zu den besonders niedrig liegenden Gletschern der Alpen. Seine Lage – nordexponiert – und Lawinen, die auf den Gletscher abgehen, wirken sich vorteilhaft auf sein Bestehen aus. „Fachlich korrekt ist das Eiskar ein lawinengenährter Kargletscher“, erläutert der Gletscher-Professor. Die in der Regel reichlichen Schneefälle in den Karnischen Alpen sowie die Lawinen, die über die schrägen 300 bis 400 m hohen Felswände von der Kellerwand auf den Gletscher abgehen, sind für Entstehen und Erhaltung des Gletschers verantwortlich. 1897 wurde der „Gletscher der Kellerwand“, so wurde das Eiskar damals bezeichnet, erstmals vermessen. Der italienische Geograf Olinto Marinelli brachte am 5. August 1897 erste Messpunkte, die heute noch sichtbar sind, an. „Da es zwischen dem Höchststand 1850 und der ersten Messung 1897 wenig Veränderung gab, können wir die Entwicklung des Gletschers über mehr als 150 Jahre zurückverfolgen“, schwärmt Hohenwarter. Dabei wird klar, dass die Volumens-Einbußen noch viel dramatischer sind, als die Längenverluste. „Das Eiskar hat durch die Klimaveränderungen seit 1850 zumindest die Hälfte seines Volumens verloren. An Länge hat es seither weniger als ein Viertel eingebüßt“, greift der Geograf auf historische Messwerte zurück.

Noch ein historisches Kapitel wird mit dem Eiskar verbunden: Im Ersten Weltkrieg lag der Gletscher mitten im Frontgebiet der Gebirgskämpfe zwischen Österreich und Italien. „Bis in die 1990er Jahre haben wir am Eis immer wieder Kriegsrelikte und alte Kabel der Telefonleitungen, die bis hinauf auf den Grat gelegt wurden, gefunden. Im weiteren Umfeld des Gletschers sind Unterstände, Laufgräben, Kommandounterkünfte u.ä. bis heute sichtbar. Und es gab seitens der Heeresleitung aus Unkenntnis abstruseste Ansinnen, etwa einen Karrenweg auf die Kellerwand zu bauen“, blickt Historiker Hohenwarter auf eine unrühmliche Zeit zurück.

 

Faszination Gletscher

„Grundsätzlich haben Gletscher für mich immer etwas Spannendes. Einerseits zeugen sie von großen Urgewalten und andererseits sind sie ein langsam reagierender, doch deutlich sichtbarer Klima-Indikator“, teilt Gerhard Hohenwarters gleichnamiger Sohn, der Meteorologe ist, die Begeisterung seines Vaters. „Wer hat schon die Möglichkeit, ein so seltenes Naturjuwel wie einen Gletscher zu beobachten, zu untersuchen und zu dokumentieren“, beschreibt Junior-Hohenwarter sein Interesse am Gletschermessen. Er ist es auch, der zusätzliche Messtechniken, etwa Bohrungen mit einem Dampfbohrer um Zunahmen oder Rückgänge der Gletscherdicke zu dokumentieren, neu eingebracht hat und seit 2012 der offizielle Gletschermesser ist.

Im Bild: Gerhard Hohenwarter jun. und sen. beim Messen der Dicke der Schneedecke am Gletscher | Foto: Archiv Gerhard Hohenwarter

Der Gletscher als Familien-Thema

Das Eiskar ist in den letzten bald 40 Jahren zum untrennbar mit den Hohenwarters verbundenen Phänomen geworden. Das Wetter wird danach beurteilt, ob es günstig für den Gletscher ist oder nicht. Zur Mithilfe beim Messer wird die Verwandtschaft mobilisiert. „Meine Faszination für das Eiskar mag damit zu tun haben, dass ich in Mauthen, am Fuß des Plöckenpasses geboren und im Gailtal aufgewachsen bin. Deshalb ist mir die Großregion sehr ans Herz gewachsen“, begründet Hohenwarter seine Begeisterung.

Bei seinem Junior, dem Meteorologen, ist die Erklärung für die Gletscher-Faszination einfacher. Der Vater hat den Sohn mit seinem Enthusiasmus angesteckt. Als Zwölfjähriger war er erstmal beim Messen mit dabei. Und seit 2012 hat der Junior offiziell die Messleitung übernommen. Selbst die Enkel fragen immer wieder, wann sie denn endlich mit hinauf zum Eiskar kommen dürfen. Sollte der Gletscher es schaffen, ähnlich enthusiastisch dem Klimawandel zu trotzen, die Hohenwarters werden noch in Generationen zum Messen kommen.

Das Eiskar & die Hohenwarters

 

Der Eiskargletscher

  • Österreichs südlichster Gletscher
  • Einziger Gletscher in den südlichen Kalkalpen in Österreich
  • Lage in den Karnischen Alpen, westlich des Plöckenpasses, unterhalb der Kellerwand (Kollinkofel 2.691 & Kellerspitzen 2.774)
  • einer der an niedrigsten liegenden Gletscher der Alpen in Höhenlagen von 2.115 m bis 2.370 m Seehöhe (1850: 2.020 m bis 2.420 m)
  • Fläche: Heute etwa 15 Hektar (1850 etwa 25 Hektar)
  • Regelmäßige, dokumentierte Gletschermessungen seit 1897. Seit 1992 durch Gerhard Hohenwarter in Zusammenarbeit mit der Universität Graz und im Rahmen des Gletscher-Messprogramms des Österreichischen Alpenvereins
  • Aktuellste wissenschaftliche Arbeit: „Das Eiskar“, Diplomarbeit, Sabrina Salcher, Institut für Geografie, Universität Innsbruck
  • Erreichbarkeit: sehr schwierig, über keine markierten Wege erreichbar
  • Alternativ: Das Eiskar „von oben“ – vom Kollinkofel (2.691 m) aus – betrachten. Prächtige, fordernde Tour vom Plöckenpass auf markierten Steigen

 

Die Hohenwarters

  • Gerhard Hohenwarter sen., pensionierter Professor für Geografie und Geschichte am Gymnasium Villach-Perau
  • Über 100 Eiskar-Besuche seit 1981 (100. Mal am 8. Juli 2018)
  • Offizielle Gletscher-Messungen im Rahmen des Messprogramms des Österreichischen Alpenvereins, seit 1992
  • Weitere Gletscherbeobachtungen bzw. -messungen u.a.: Lassacher Kees (Ankogelgruppe) und Freiwandkees (Glocknergruppe)
  • Sohn: Gerhard Hohenwarter jun., Meteorologe, Mitarbeiter der ZAMG in Kärnten, eigener Berg-Blog www.feiersinger.jimdo.com